Vom Aschenputtel zur umworbenen Braut
Um die jahrelang verschmähte Internet-Sparte America Online, die wie ein Klotz am Bein des weltgrößten Medienkonzerns Time Warner zu hängen schien, reißen sich plötzlich die Großen.
Neben Google und dem US-Marktführer bei Kabel-TV, Comcast, hat sich auch Microsoft bereits seit Monaten um den vormaligen Erzfeind AOL bemüht, angeblich wird ein Joint Venture angestrebt.
Der Medienriese News Corp. hatte ebenfalls Interesse an AOL gezeigt, Rupert Murdoch habe jedoch aufgegeben, nachdem klar wurde, dass Time Warner keine Kontrollbeteiligung an AOL verkaufen wollte. Der immer noch größte Portalbetreiber Yahoo wäre ebenfalls tangiert, falls der expansionswütige und höchst liquide Konkurrent Google bei AOL, dem Betreiber des zweitgrößten Internet-Portals, zum Zug kommen sollte.
Ein Parvenü namens Steve Case
Warum sich alle um AOL reißen, hängt von höchst unterschiedlichen Motivationen ab. Das stetig schrumpfende Providergeschäft AOLs ist jedenfalls nicht der Grund dafür.
Das in den 90er Jahren vom führenden Online-Dienst zum weltgrößten Internet-Provider aufgestiegene Unternehmen hatte mit dem Erlös des Börsengangs Time Warner übernommen und die weltweite Medienbranche zum Zittern gebracht: Ein Blitzaufsteiger aus einer Branche, die es erst überhaupt seit ein paar Jahren gab, hielt plötzlich 55 Prozent am weltgrößten Medienkonzern.
Über CNN-Gründer Ted Turner stand plötzlich ein Parvenü namens Steve Case in der Hierarchie.

Die Synergien blieben aus
Schon bald danach hatte sich freilich herausgestellt, dass sich die erhofften Synergien zwischen dem Medienkonzern, der auch über eine große Kabel-TV-Sparte verfügt, sehr in Grenzen hielten.
Für die Vermarktung von Multimedia-Inhalten war das Netz um die Jahrtausendwende generell noch nicht reif - schon gar nicht für AOL-Kunden, die bis heute mehrheitlich mit Modemzugang surfen.
Nach mehreren Bilanzskandalen wurde aus AOL-Time Warner langsam wieder Time Warner, AOL wurde zum Geschäftsbereich degradiert, Case dankte als CEO von Time Warner ab.

Milliardär Icahn macht Druck
Seitdem ist AOL ein Geschäftsbereich, der notorisch geringere Renditen als der Rest des Medienkonzerns abwirft.
Time-Warner-Chef Richard Parsons steht deshalb unter starkem Druck des Milliardärs und Großaktionärs Carl Icahn. Dieser forderte "mutige" Schritte zur Durchsetzung eines höheren Aktienkurses.
Die Time-Warner-Aktien notieren momentan mit 17,49 Dollar gegenüber 19,90 Dollar Mitte Dezember 2004. Ein Teilverkauf der Internet-Sparte und ein anschließender Börsengang einer mit Partnern gestärkten AOL könnte den Time-Warner-Kurs nach Ansicht von Marktkennern nach oben bringen.

Die Motive Googles und Microsofts
Google will sich durch eine Beteiligung AOL als wichtigen Suchmaschinen-Kunden erhalten und darüber hinaus den Zugriff auf Filme, Videos und andere Unterhaltungsinhalte sichern. Diese hatte AOL mit kräftiger Hilfe der Mutter Time Warner in einer erfolgreichen Comeback-Strategie in die Portale eingebracht.
Microsoft würde seinerseits AOL gern dem immer bedrohlicher werdenden Suchmaschinen-Branchenführer Google abnehmen und AOL stattdessen die eigene Suchmaschinen-Technologie anbieten. Microsoft könnte dafür möglicherweise sein Internet-Portal MSN in ein Joint Venture mit AOL einbringen.
Nach der Übernahme durch AOL fiel die Aktie von Time Warner in sich zusammen: der Kurs sank von fast 100 auf unter 20 Dollar - wo er noch heute liegt.

Was Comcast will
Comcast wiederum ist die größte US-Kabelfernsehfirma vor Time Warner. Comcast könnte sich durch einen AOL-Einstieg besser gegen die immer aggressiver in die Unterhaltung vordringenden US-Telefongiganten wie Verizon und SBC zur Wehr setzen.
Diese verbünden sich mit Internet-, Satelliten-TV- und Unterhaltungsunternehmen und bieten kombinierte Dienste an: Telefon, DSL-Internet, Fernsehen, Internet. Die Kabelfernsehfirmen machen ihrerseits mit Internet-Telefonie und Breitband-Internet-Verbindungen den Telefonkonzernen Konkurrenz.
