© Quantic Dream, Screenshot aus

"Heavy Rain": Der Film, der ein Spiel sein will

GAMES
25.02.2010

"Wir nennen es einen interaktiven Spielfilm - wenn Ihnen etwas Besseres einfällt, lassen Sie es uns wissen": Das sagte Guillaume de Fondaumiere, ausführender Produzent und Vizechef von QuanticDream, kürzlich bei der Präsentation von "Heavy Rain" in Wien. "Heavy Rain" als Film oder Spiel zu bezeichnen ist zu hoch gegriffen - der Begriff "interaktives Buch" passt besser. Eine Kritik.

"Heavy Rain" ist ein Grenzgänger zwischen der Welt des Videospiels und der des Films, versucht aus beiden das Beste zu holen und scheitert dabei auch schon mal - vor allem weil die Technik für derartige Experimente immer noch nicht ausgereift genug ist. Für ein reines Videospiel hat es nicht genügend interaktive Elemente, für ein klassisches Filmerlebnis sehen die Figuren noch zu puppenhaft aus - als Experiment funktioniert "Heavy Rain" trotzdem, nicht nur weil es eine neue Herangehensweise an Videospiele herausfordert.

Von der Vorstadtidylle zur zerbrochenen Existenz

Ein am Tod seines ältesten Sohns zerbrochener Familienvater, ein Privatdetektiv mit Asthma, eine von Alpträumen und Schlaflosigkeit geplagte Journalistin und ein drogensüchtiger FBI-Agent, der sich mit Hilfe einer Spezialbrille nach Art von "Matrix" in andere Welten beamen kann - das sind die Hauptprotagonisten von "Heavy Rain", das am Freitag exklusiv für Sonys PlayStation 3 erscheint. Nicht zu vergessen der "Origami-Killer", der seinen Opfern, allesamt junge Buben, kleine Origamifiguren in die Hand drückt und eine Orchidee auf die Brust legt. Alles Zutaten für einen Psychothriller der besonders finsteren Sorte.

Auf der Suche nach dem Origami-Killer schickt "Heavy Rain" den Zuschauer/Spieler/Nutzer auf eine emotionale Hochschaubahn. Dabei fängt alles relativ harmlos an. Zu Beginn erlebt man das Familienleben der Hauptfigur Ethan Mars, der mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in einer klassischen Vorstadtidylle lebt. Bei einem Ausflug ins Einkaufszentrum verliert Ethan seinen älteren Sohn aus den Augen, der in der Folge bei einem Autounfall ums Leben kommt. Nicht nur Ethan, die ganze Familie zerbricht an diesem Schicksalsschlag, zwei Jahre später lebt Ethan mit seinem jüngeren Sohn Shaun in einem heruntergekommenem Haus.

Die Jagd nach dem Origami-Killer

Bei einem Besuch im Park verliert Ethan das Bewusstsein und Shaun aus den Augen - kurze Zeit später findet sich Ethan auf einer Straße wieder, mit einer Origami-Figur in der Hand. Sein Sohn Shaun ist verschwunden. Die Jagd nach dem Origami-Killer beginnt. Der Nutzer schlüpft dabei nicht nur in die Rolle von Mars, sondern sieht die Geschichte auch aus den Augen von Detektiv Scott Shelby, FBI-Agent Norman Jayden und der Journalistin Madison Paige.

Die Wege der vier Figuren kreuzen und verknüpfen sich, zum Teil helfen sie einander auch. So steht Jayden vor der Entscheidung, ob er Mars zur Flucht verhelfen soll, während Paige in einem Motel Mars' Wunden versorgt. Der wiederum muss sich auf der Suche nach seinem Sohn verschiedenen Prüfungen des Origami-Killers unterziehen.

Schmerzen hautnah miterleben

Diese Prüfungen sowie die Beziehungen der Figuren untereinander und ihre Erlebnisse auf der Suche nach dem Origami-Killer sind das eigentliche Gameplay, das vor allem aus dem Spiel mit Emotionen besteht. "Sind Sie bereit zu leiden, um Ihren Sohn zu retten?", fragt der Origami-Killer Mars zu Beginn jeder Prüfung und fordert dabei von ihm unter anderem, dass er sich ein Fingerglied abtrennt.

Und der Nutzer ist hautnah dabei: Er muss nicht nur das passende Werkzeug finden, er soll auch mit der richtigen Tastenkombination den finalen Schnitt setzen und sieht dann Mars sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmen. Aktionen wie diese werden durch schnelle Schnitte und extreme Kameraeinstellungen gekonnt in Szene gesetzt. "Heavy Rain" ist, trotz der smarten Theorien seiner Macher, ein hartes Spiel.

Controller- und Interaktionsschwächen

Die Interaktion mittels PS3-Controller ist eine der Schwächen: Oft ist nicht klar ersichtlich, ob Tasten nur kurz und dafür oft gedrückt werden müssen oder wie viele Knöpfe bei den zum Teil sehr anspruchsvollen Tastenkombinationen in Summe gehalten werden müssen, damit die Figur ihre Aufgaben auch erfüllt. Dafür sind die Möglichkeiten zur Interaktion meist präzise gesetzt und ziehen den Nutzer so noch stärker in die Erlebniswelt auf dem Schirm, etwa bei den zum Teil sehr harten Kämpfen und bei Fluchtaktionen.

Nicht bei jeder Interaktionsmöglichkeit erschließt sich ihr Sinn: Ein ultrarealistisch wiedergegebener Gang aufs WC verleiht dem Erlebnis nicht unbedingt mehr Tiefe oder Realismus, sondern ist ebenso banal wie im echten Leben - inklusive Händewaschen im Anschluss. Ein Auto starten und dann den Gang einlegen, ein Baby wickeln, das Licht an- und abdrehen oder Eierspeise machen zu können sind zwar nette Features, aber die Aktionen bleiben in den vorgefertigten Handlungssträngen eingebettet.

Von den rund acht Stunden Spielzeit sind etwa fünf Stunden Dialoge zwischen den Figuren, da bleibt für große Aktionen wenig übrig. Die Figuren können sich zudem nicht uneingeschränkt bewegen - wenn eine Aufgabe nicht erfüllt ist, gibt es kein Weiterkommen. In diesen Momenten ist "Heavy Rain" nichts weiter als ein klassisches Videospiel mit entsprechendem Frustfaktor.

Die Qual der richtigen Entscheidung

Jede Aktion, die der Spieler setzt, soll laut Entwicklern den Ausgang des Spiels beeinflussen - was den Spieler auch in den banalsten Momenten vor eine echte Herausforderung stellt. Soll er Mars nun einen Schluck Orangensaft trinken oder ihn doch ein Bier aufmachen lassen? Soll Mars seinem Sohn zuerst das Essen aufwärmen oder ihn lieber fernsehen lassen? Und soll sich Mars tatsächlich den Finger abschneiden oder, wie ebenfalls verlangt, einen ihm unbekannten Drogendealer und Familienvater erschießen, mit Foto als Beweis?

Nicht immer ist klar, welche Handlung besser ist und welche Ergebnisse daraus resultieren. Darin liegt aber auch der große Reiz, der ebenfalls zum intensiven Erleben beiträgt - nicht zuletzt dann, wenn eine Figur an der ihr gestellten Aufgabe scheitert. Wie im echten Leben geht es darum, im Rahmen des Möglichen die richtigen Entscheidungen zu treffen - und für falsche zu büßen.

Als Film optisch nicht gut genug

Die Produktion des Spiels war teuer. 97 Prozent der Animationen wurden laut dem ausführenden Produzenten De Fondaumiere vollautomatisch aufgenommen, 170 Drehtage, 55 verschiedene Sets und 18 Millionen Euro Produktionskosten habe das Team benötigt. Die Entwicklung dauerte dreieinhalb Jahre.

Trotz des Aufwands ist es, neben der teilweise löchrigen und gedehnt wirkenden Story, ausgerechnet die Grafik, die dem Gesamterlebnis abträglich ist. "Heavy Rain" bewegt sich verdammt nah am Fotorealismus, erreicht ihn bei den interaktiven Szenen aber nicht. Und das ist der springende Punkt. Jede Figur hat eine ganz eigene Art, sich zu bewegen, und erscheint dadurch aus der Ferne oft richtig real. Die sehr detailreichen Gesichter sind dafür aber vergleichsweise ausdruckslos, erscheinen immer noch wie Masken, die Augen sehen oft ins Leere.

Spielen im "Uncanny Valley"

Damit erzeugen sie im Betrachter ein widersprüchliches Erlebnis, das Robotiker und Experten der Künstlichen Intelligenz als "Uncanny Valley"-Effekt bezeichnen. Je realistischer eine künstlich geschaffene Figur ist, desto weniger werden ihr geringste Abweichungen von der Realität verziehen - die Figur wird umso stärker abgelehnt, je näher sie der Wirklichkeit kommt. Erst ab einem sehr hohen Realitätsgrad kann der Mensch die künstliche Figur wieder akzeptieren. In "Heavy Rain" ist die Grafik so gut, dass der Betrachter merkt, dass die dargestellte Spielfigur fotorealistisch sein soll, aber eben nicht gut genug, dass der Spieler die Illusion vollständig akzeptieren kann - einige wenn auch winzige Details hindern ihn daran. Es fällt so schwerer, sich mit den Figuren emotional verbunden zu fühlen.

Laut De Fondaumiere ist es mit den aktuellen technischen Mitteln derzeit nicht möglich, das "Uncanny Valley" zu überwinden. Dazu brauchten die Figuren auch mehr Intelligenz: "Wir können noch so gutaussehende Charaktere haben, wenn sie sich nicht intelligent bewegen und natürlich sprechen können, werden sie immer wie Puppen aussehen." In fünf, sechs Jahren sei sicher mehr möglich. Als Zielgruppe für "Heavy Rain" nennt De Fondaumiere "Gamer, die erwachsen sind, mit Videospielen groß geworden sind, seit zehn, 15, 20 Jahren spielen und es satthaben, immer wieder die gleichen Monster in den gleichen dunklen Korridoren zu töten".

23 mögliche Enden

Allerdings muss man sich auch bei "Heavy Rain" durch dunkle Korridore beziehungsweise einen dunklen Tunnel quälen, muss andere Figuren umbringen oder sich selbst Schmerz zufügen - die große Revolution der Gewaltlosigkeit gibt es nicht. Revolutionär sind dafür die 23 möglichen Enden des Spiels, die man durch die eigenen Entscheidungen beeinflussen kann. "Heavy Rain" wird somit für jeden Nutzer zu einer sehr persönlichen Erfahrung, zu "seinem" Spiel, dessen Ausgang er selbst mitbestimmt hat. Dazu trägt natürlich auch die starke emotionale Komponente bei, die jeder Nutzer auf Basis seiner bisherigen Erfahrungen anders erleben wird.

Die Zukunft der Videospiele?

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Den meisten Spielen fehle die emotionale Tiefe, sagte QuanticDream-Chef und "Heavy Rain"-Drehbuchautor David Cage bei der Entwicklerkonferenz GDC in Köln. Oft würden sie nur Angst, Frustration oder Aggressivität auslösen - alles Emotionen, die zum Überleben notwendig und damit auf der untersten Ebene angesiedelt seien. Doch wenn Videospiele nicht einfaches Spielzeug, sondern vielschichtig und womöglich auch kontrovers wie etwa Kunst sein wollten, müssten sie auch soziale Emotionen, etwa Empathie, Trauer, Eifersucht und Scham, erzeugen und mit ausdrucksstarken Charakteren tiefergehende Geschichten erzählen können.

Der QuanticDream-Chef und Drehbuchautor von "Heavy Rain", David Cage, hat mit "Heavy Rain" durchaus erreicht, was er zuletzt bei der Entwicklerkonferenz GDC in Köln im vergangenen August gefordert hatte: dass Videospiele wie Bücher (und auch Filme) einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen und Menschen beziehungsweise ihre Denkweise verändern sollen.

Der von ihm geforderte totale Regelbruch ist "Heavy Rain" nicht unbedingt, doch das Werk spricht tatsächlich andere Emotionen an, als man es bisher von Spielen in diesem Umfang gewohnt war. Die Aufregung und Wut im Bauch, weil man einen Level nicht geschafft hat, rutscht bei "Heavy Rain" eine Etage höher in Richtung Herz und verwandelt sich dabei in Empathie, in Mitgefühl für die Leiden auf dem Schirm. Wer sich darauf einlässt, kann daraus auch Lehren für sein Verhalten im realen Leben ziehen.

"Heavy Rain" ist ein brutales und emotionsgeladenes Spiel und nicht unbedingt etwas für schwache Nerven. Wer Psychothrillern sonst nicht viel abgewinnen kann, wird an "Heavy Rain" keine Freude finden. Wer ausschließlich Action will, ist ebenfalls nicht an der richtigen Adresse. Filmfans werden ob der Grafik und der nicht immer ganz logischen Geschichte auch nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen. Wer aber eine neue Erfahrung sucht und wissen will, in welche Richtung Spiele sich in den kommenden Jahren entwickeln könnten - vorausgesetzt, es gibt einen Markt dafür -, sollte sich "Heavy Rain" einmal anschauen.

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(futurezone/Nadja Igler)