© AP/IBM, IBM-Werbung mit Rechenanlage aus den 60er-Jahren

Euro-Computer: Gemeinsam gegen IBM

SERIE
26.09.2009

In den 1960er Jahren hat es eine lebendige Szene europäischer Computerhersteller gegeben. Doch gegen den Giganten IBM hatten die Europäer keine Chance. Nationale Alleingänge und Animositäten zwischen Briten und Franzosen verhinderten die Entstehung einer europäischen Computerindustrie, die den USA hätte Paroli bieten können. Teil drei der futurezone.ORF.at-Serie "Europa und das Netz".

In den 1960er Jahren war man weder in Übersee noch in Europa auf IBM gut zu sprechen. Der US-Konzern verfügte über einen Anteil von 70 Prozent auf dem Weltmarkt für Rechenanlagen - und "Big Blue" drängte mit aller Macht nach Westeuropa. Auf beiden Seiten des Atlantiks erhitzte vor allem die "dritte Rechnergeneration" die Gemüter, die der Konzern am 7. April 1964 als IBM/System 360 ankündigte und ein Jahr später auf den Markt brachte.

In den USA führte das 1969 zur Eröffnung eines neuen Kartellverfahrens gegen IBM. Stand der Konzern früher noch wegen seines Lochkartenmonopols in der Kritik, so ging es nun um die Gefahr, dass IBM den zukünftigen Computermarkt für Klein- und Mittelbetriebe beherrschen könnte. In Europa rätselte man, ob man dem Vormarsch von IBM mit dem Bau eines "europäischen Computers" begegnen könnte. Dem Aufbau von Kommunikationsnetzwerken in Europa hätte dieses Vorhaben durchaus Vorteile gebracht. Jedenfalls hätte es den proprietären Wildwuchs an Protokollen eingeschränkt und den Aufbau verteilter Netzwerke erleichtert.

Nationale Insellösungen

Jedoch war das Jahr 1964 für die Umsetzung derartiger Pläne ein schlechter Zeitpunkt. Das französische Computerunternehmen Bull steckte in Schwierigkeiten und musste im Juli 1964 seine Mehrheitsanteile an den amerikanischen Konzern General Electric abtreten. Die britischen Computerhersteller hatten zwar einen guten Ruf, aber sie gehörten nicht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) an, die damals aus den Ländern Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg bestand.

Für die Umrechnung der damaligen Geldwerte siehe Measuring Worth

Kopfzerbrechen bereiteten der Industrie damals die vorausberechneten Entwicklungskosten von fünf Milliarden US-Dollar, die IBM Medienberichten zufolge in den Bau seines neuen Systems gesteckt haben soll. Eine Summe, die 2007 der Kaufkraft von etwa 33 Milliarden US-Dollar entsprach. Diese Investitionskosten hätten zwar für eine Zusammenarbeit der europäischen Computerindustrien gesprochen, da keines der einzelnen Unternehmen in der Lage gewesen wäre, diesen Betrag alleine aufzubringen, aber dafür fehlte es am notwendigen Willen und an der Zeit.

M. Campbell-Kelly, ICL and the Evolution of the British Mainframe, Computer Journal 38 (1995), pp. 400-412. [PDF]

Großbritannien als Hoffnungsträger

Es blieb den Briten überlassen, wenigstens ein wenig Gegenwind über den Atlantik zu blasen. International Computers and Tabulators (ICT) brachte seine Rechnerserie "1900" noch 1964 auf den Markt, und English Electric folgte 1967 mit "System 4". Die Pläne zum Bau einer dritten Rechnergeneration lagen in Großbritannien schon in den Schubladen, aber die überraschend frühe Ankündigung des neuen IBM-Systems brachte auch dort den Zeitplan gehörig durcheinander, so Martin Campbell-Kelly, Computerhistoriker an der Universität Warwick, in seinem Artikel "ICL and the Evolution of the British Mainframe".

Spätestens 1967, so Campbell, wurde allen Beteiligten eines klar: Mit dem Bau von unterschiedlichen Rechenmaschinen wurde weniger IBM unter Druck gesetzt, sondern vielmehr die eigene Industrie, die sich zusehend in interne Machtkämpfe um den kleinen britischen Markt verstrickte.

Die Megafusion

Die Lösung des Problems, dachten die britischen Strategen, könnte eine Zusammenlegung der Unternehmen auf nationaler Ebene sein. Die Computerindustrie sollte ihre Marktmacht bündeln und zu einem einzigen Konzern zusammenschließen, hieß es alsbald auch aus dem britischen Wissenschaftsministeriums. Bereits 1968 war dieser Prozess abgeschlossen. Von klingenden Namen wie Ferranti, English Electric, Elliott Brothers und Leo Computers blieb nicht mehr viel übrig. Die britische Computerindustrie formierte sich unter dem Namen International Computers Limited (ICL) neu.

ICL, ausgestattet mit der Zusage einer staatlichen Finanzspritze in Höhe von 25 bis 30 Millionen britischer Pfund für den Bau einer neuen Computerserie - heutige Kaufkraft: etwa 400 bis 480 Millionen Euro -, galt damals als größter Hersteller von Rechenanlagen außerhalb der USA. Zumindest was die Mitarbeiterzahl betraf, stand ICL seinem Konkurrenten IBM um nichts nach. 34.000 zählte man bei ICL, auf 37.500 Beschäftigte kam – laut einer Studie der Europäischen Gemeinschaft 1967 – der Konzern IBM. Allerdings nur dann, wenn all seine europäischen Niederlassungen miteinberechnet wurden. Aber weder die Größe noch die finanzielle Unterstützung brachte ICL wirklich weiter. Durch die Energiekrise, Neuwahlen 1971 und internen Streitigkeiten kam der Konzern mit seiner ersten Serie 2900 erst 1974, mit zwei Jahren Verspätung auf den Markt, schreibt Martin Campbell-Kelly.

Briten als bessere Europäer

Von all diesen Schwierigkeiten ahnte man Ende der 1960er Jahre noch wenig. Dem britischen Premierminister Harold Wilson ging es um weit mehr als nur um die britische Computerindustrie. Wilson hegte die Hoffnung, dass die Initiative seiner Regierung Eindruck auf die Kontinentaleuropäer machen und als Folge sein Land endlich mit offenen Armen in die EWG aufgenommen werden würde. 1961 hatte man bereits den ersten Antrag gestellt, war aber an Charles de Gaulle gescheitert. Diesmal, so die Hoffnungen in London, könnte man das Ruder herumreißen. Schließlich war man 1967 nicht nur in London davon überzeugt, dass sich eine europäische Computergeschichte nicht ohne Beteiligung der Briten schreiben ließ.

Doch die umworbenen europäischen Partner wollten sich auf Wilsons Initiative nicht so weit einlassen. Zwar zeigten sich zahlreiche Politiker auf dem Kontinent von der Entwicklung auf dem britischen Computermarkt beeindruckt, aber letztlich kam keiner von ihnen an Charles de Gaulle vorbei. Und der organisierte nach dem Verlust von Bull gerade seinen eigenen Computermarkt neu.

Nationalstaatlicher oder europäischer Computermarkt

"Plan Calcul" nannte die französische Regierung ihr Förderprogramm für die Computerindustrie, das sie 1966 auf den Weg brachte, und das wie in Großbritannien mit Restrukturierungsmaßnahmen der Branche begann. Das erste Ziel der Franzosen lautete demnach: Aufbau eines neuen "nationalen Champions". Dem gab man den Namen Compagnie Internationale d'Informatique (CII). Von 1967 bis 1980, in drei Etappen zu je vier Jahren, versorgte "Plan Calcul" die französische Computerindustrie mit einer Finanzspritze von mehr als drei Milliarden Francs (heute in etwa 457 Millionen Euro). Dabei sind jene Gelder noch nicht eingerechnet, die der Staat zuschießen musste, um die Verluste von CII über die Jahre hinweg abzudecken.

De Gaulle setzte damit nicht nur auf französischen Nationalstolz bei der Produktion von Rechenmaschinen, sondern er wehrte damit 1967 wiederholt die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft ab.

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Europas Verbindung zum ARPANET

Es waren politische Entscheidungen dieser Art, erzählt der britische Computerwissenschaftler Peter Kirstein, welche die technische Entwicklung in Europa bestimmten und den Aufbau eines internationalen Computernetzwerks verzögerten.

Unterdessen machten sich die USA nämlich bereits daran, ihre Computersysteme zu vernetzen. 1969 nahm das ARPANET, der Vorläufer des Internets, seinen Betrieb auf. Es dauerte nicht lange, bis sich das ARPANET nach Europa ausdehnte. Die erste Datenverbindung aus einem europäischen Land zur ARPA wurde 1973 in der Nähe von Oslo installiert, Forschungsinstitut Norwegian Seismic Array (NORSAR) in Kjeller. Die Verbindung wurde gelegt, um seismografische Daten in die USA übertragen zu können. Es war die Zeit des Kalten Krieges, und die USA waren daran interessiert, so schnell wie möglich an die Daten von sowjetischen Atomwaffentests heranzukommen.

Kirstein, damals am University College in London tätig, schrieb europäische Computergeschichte, als er 1973 eine zivile internationale Verbindung ins ARPANET realisierte. Diese Verbindung wurde nicht im Dienste der Militärs eingerichtet und war auch nicht als Projekt mit Ablaufdatum geplant, sondern als ein Service von Dauer.

Audio:

ORF.at: Interview mit Peter Kirstein, 2003

Vorgesehen war dafür eigentlich ein anderer: Donald Watts Davies, vom National Physical Labratory (NPL), seinerzeit der bekannteste Computerwissenschaftler und Mathematiker Großbritanniens.

Davies fuhr in den 1960er Jahren regelmäßig auf Studienreisen in die USA und informierte sich dort über die neuesten Entwicklungen seiner US-amerikanischen Kollegen. Vor allem die Aktivitäten rund um die Gestaltung neuer Kommunikationsnetzwerke interessierten ihn. Er stand im regen Austausch mit den Wissenschaftlern der Advanced Research Projects Agency (ARPA) und lud sie auch zum Informationsaustausch nach Europa ein.

Europa und das Netz: Teil vier

Am nächsten Samstag lesen Sie: Wie aus US-amerikanischen "heißen Kartoffeln" in Europa "Packet Switching" wurde, und warum es IBM zu verdanken ist, dass Donald Watts Davies die Chance erhielt, vor Postmonopolisten über Computernetzwerke zu reden.

Aufgrund dieser guten Kontakte gingen die Wissenschaftler von der ARPA davon aus, dass Donald Davies die Aufgabe übernehmen werde, den ersten zivilen europäischen Brückenkopf des ARPANET zu errichten. Anfang der 1970er Jahre jedoch schickte die britische Regierung Davies als ihren offiziellen Vertreter zu den Standardisierungsverfahren des CCITT nach Genf. Das Comite consultatif international telephonique et telegraphique" (CCITT) war das internationale Gremium der staatlichen Post- und Telegrafengesellschaften, seit 1993 bekannt unter dem Kürzel ITU-T. Davies hatte schlicht keine Zeit mehr, Experimente mit Netzwerken zu machen.

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(Mariann Unterluggauer)