Compuserve-Fall wird wieder aufgerollt
Am ersten Tag im Revisionsprozess gegen den früheren Compuserve-Deutschland-Chef Felix Somm haben die drei Verteidiger von Somm deutlich gemacht, dass sie weiter den Freispruch ihres Mandanten erreichen wollen.
Der Angeklagte habe weder durch aktives Verhalten noch durch Unterlassen die Verbreitung von Pornografie gefördert, erklärte Prof. Ulrich Sieber vom Verteidiger-Trio. Die beanstandeten Inhalte seien nur auf dem Datenspeicher des US-Mutterunternehmens enthalten gewesen. Die
deutsche Tochter habe lediglich über ihre Netzknoten eine günstige Einwahlmöglichkeit in die US-Server geboten, technisch habe sie nichts herausfiltern können.
Somm habe als Chef der deutschen Tochter nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf die US-Mutterfirma gehabt, betonte Sieber. Dennoch habe er die Sperrung einiger Newsgroups - zum Teil vorübergehend, zum Teil dauerhaft - erreicht.
Aktuelle Rechtslage
Nach dem neuen deutschen Multimediagesetz von 1997 könne Somm, laut Verteidigung, nicht für die beanstandeten Inhalte verantwortlich gemacht werden. In § 5 dieses Gesetzes heißt es: "Diensteanbieter sind für fremde Inhalte, zu denen sie lediglich den Zugang zur Nutzung vermitteln, nicht verantwortlich."
Der Vorsitzende Richter Laszlo Ember ließ bereits durchblicken, dass er im Gegensatz zum Amtsgericht Zweifel an einer Mittäterschaft Somms sehe, es komme aber auch der Vorwurf der Beihilfe in Frage.
Unkontrollierbar
Gutachter Andreas Pfitzmann von der Technischen Universität Dresden erklärte, man müsse sich die Newsgroups und andere Angebote im Internet wie ein Einkaufscenter mit einer Unmenge Wundertüten vorstellen. Aber man dürfe nicht an einen Stand mit 200 Wundertüten denken, deren Inhalte man durchaus noch kontrollieren könne. "Auf dem Plattenspeicher großer Server hat man so viele Wundertüten, dass man einfach in Personalprobleme hineinläuft, wenn man das kontrollieren soll."
Anderer Ansicht war der Münchener Amtsrichter Wilhelm Hubbert, der Somm im Mai vergangenen Jahres in erster Instanz zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und 100.000 DM Geldstrafe verurteilte.
Laut dem Urteilsspruch habe Somm wissentlich Kinderpornografie und Nazi-Propaganda verbreitet. Kunden von Compuserve hätten über das Internet in Newsgroups freien Zugang zu dem verbotenen Material gehabt.
Urteilsbegründung
In seiner Urteilsbegründung hatte Hubbert geschrieben, der Angeklagte und Compuserve wussten und wollten, dass die "harte Pornographie" öffentlich zugänglich gemacht werden sollte. "Bis ins letzte Kinderzimmer" habe Somm aus Geschäftsinteressen den deutschen Kunden Kinder-, Tier- und Gewaltpornografie zugänglich gemacht.
Die Online-Dienste T-Online, AOL, Compuserve und germany.net hatten nach dem Richterspruch gemeinsam erklärt, dass sie durch das Urteil ihre Geschäftsgrundlage in Deutschland gefährdet sähen.
Mit Hochspannung wartet die Multimedia-Branche deshalb nun darauf, wie der Fall in der nächsten Instanz entschieden wird - und vor allem wie dann die Begründung ausfällt. Denn nicht das Ergebnis, sondern die Argumente des Gerichts seien für die Branche interessant, sagt Sabine Köster-Hartung, Rechtsreferentin des Deutschen Multimediaverbands [DMMV].
Weil es sich um eine obergerichtliche Entscheidung handle, könnten erstmals "wichtige Leitlinien" für die Kontrolle der Internetinhalte vorgegeben werden. Das 1997 von der damaligen Regierung verabschiedete Teledienstegesetz werde damit juristisch im Detail definiert.
Die Vorgeschichte
Der heute selbstständige Somm war bis 1997 Geschäftsführer bei Compuserve Deutschland in Unterhaching bei München. Das inzwischen von AOL übernommene Unternehmen stellte die Verbindung deutscher Compuserve-Mitglieder mit den Computern der US-Zentrale her und hatte kaum Einfluss auf die gespeicherten Inhalte. Im November 1995 durchsuchten Polizisten die Compuserve-Geschäftsräume und zeigten Somm Newsgroups aus den USA mit eindeutigen Namen wie "alt.sex.pedophilia" oder "alt.sex.incest". Hubbert befand, Somm habe von den Inhalten wissen müssen und sei, obwohl die Seiten in den USA entstanden waren, als Geschäftsführer einer deutschen Firma für die Inhalte verantwortlich. Dagegen beruft sich die Verteidigung auf einen Paragrafen im Teledienstegesetz, nach dem Dienstanbieter für fremde Inhalte nur haftbar sind, wenn sie davon wissen und "es ihnen technisch möglich und zumutbar ist, deren Nutzung zu verhindern". An der Definition der "Zumutbarkeit" wird sich der Prozess möglicherweise entscheiden, wobei Experten klar sagen, eine Überwachung der Internetinhalte sei nicht leistbar und damit unzumutbar.
Entscheidung für Mittwoch erwartet
Der Schuldspruch in dem Prozess hatte 1998 weltweit Unverständnis ausgelöst. Das "hinterwäldlerische und erzkonservative Bayern" machte in der Weltpresse die Runde, und obwohl sich die Politik aus der Rechtssprechung heraushalten sollte, regten sich diesmal Politiker aller Parteien gemeinsam auf. CSU und Grüne forderten unisono, die Urheber strafbarer Inhalte zu belangen und nicht den Lieferanten. Der damalige Forschungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) sah die Entwicklung des Internet gefährdet, und selbst die EU-Kommission tat aus Brüssel ihr Erstaunen kund.
Die schlimmste Ohrfeige für den Richterspruch kam aber aus dem eigenen Hause: Die Staatsanwaltschaft legte entgegen allen üblichen Verhaltensweisen Einspruch ein. Sie hatte schon im Prozess genau wie die Verteidigung den Freispruch Somms gefordert. Die Beteiligten rechnen für Mittwoch mit einer Entscheidung.