Verluste in der iRealitätskrise
Dank Google Earth braucht es die Echtwelt außerhalb des Bildschirms nicht mehr. Das ist praktisch. Wenn alles im Rechner stattfindet, dann muss ich mich um die Außenwelt nicht mehr kümmern. Ein Stromkabel als Nabelschnur muss nur noch für einige Zeit sein.
Rechtzeitig zum ersten Schnee kommt Weihnachtsstimmung auf. Die iPhone-Version von Google Earth ist nun endlich verfügbar. Gestern habe ich wieder einen Apple-Jünger knien und sein G3 ablecken sehen. Es ist auch zu schön. Jetzt kann ich endlich wie der Ochs vor dem nächsten Berg stehen und gleichzeitig digital um die Flanke herumzoomen. So weiß ich, welche langweiligen Bergdörfer hinter dem nächsten Grat lauern. Auch nachts. Denn Google kennt keine Sonne.
Da kommt ein Atlas des Cyperspace schon irgendwie antiquiert und gleichzeitig sehr zeitnah daher. Auf der einen Seite ist das Wort "Cyberspace" ein Relikt aus dem vergangenen Jahrhundert. So wie "Ambros", "Drum 'n' Bass" und ".com". Auf der anderen Seite blickt das Konzept vielleicht nach vorne. Wenn wir alle mit umgeschnallten Google-Earth-Sichtgeräten herumliefen, gäbe es keine echte Welt mehr. Und wir könnten endlich die digitale Welt Stück für Stück so zurück- und umbauen, wie das Barbapapa und seine Familie tun. Vermutlich sähen wir auf die Dauer dann auch endgültig so aus. Auch farblich.
Dabei ist die Bewegung ins Netz deutlicher als je zuvor. Wegen unerheblicher zehn- bis elfstelliger Irrtümer zugunsten der einen oder anderen Bank meldete das Jobnetzwerk LinkedIn einen Zuwachs von 25 Prozent. Man traut der realen Welt eigentlich nicht mehr. Dem AMS erst recht nicht. Gesurft wird sowieso nicht mehr nur im Büro.
Laut "Wired" geben zehn Prozent der User zu, dass sie es schon einmal mit dem Laptop oder Mobile auf dem Klo gemacht haben. Genauer wollen wir es gar nicht wissen, selbst wenn es digital wäre. Dabei sollte man nicht glauben, dass es inzwischen im Digitalen geruhsam zugeht.
Terroristen nahmen sich intensiv des Brabbeltools Twitter an. Da will man eigentlich nur sagen, dass man jetzt einen Hack für Google Earth gefunden und George W. Bush zum Ende seiner zweiten Amtszeit die Wüste Gobi vor die Haustür geschoben hat, und schon klopfen einem Arabisch sprechende Freunde der italienischen Oper per Eingabezeile auf die Schulter. Nur liebestolle Kamele irritieren mehr.
Der einzige Trost ist vielleicht, dass in fünfzig Jahren nicht mehr viel von diesem Zeitalter im Digitalen übrig sein wird. Das muss man sich ein wenig wie die Finanzkrise vorstellen, nur leichter löschbar. Von heute bis dann hat sich Microsoft eines besseren besonnen und verschwindet vom Desktop nun ganz in den Wolken. Es gibt überall nur noch frei zugängliche Applikationen, die man einfach lieben muss. Aber keine Zwischenspeicherung mehr.
Und eines Morgens werden wir aufwachen, unser Leben hochstarten wollen und feststellen, dass wir frei nach Häuptling Seattle unsere Screens nicht essen können. Dann fangen wir wieder genauso von vorne an wie das US-Investmentbanking. Ohne Hilfspaket. Mit der brutalen diesseitigen Realität vor Augen, mit hässlichen Ehefrauen und Ehemännern, deren Runzeln sich nicht geradeklicken lassen, mit einem Blick auf den eigenen Körper, der wie ein Stück Camembert aussieht.
Ich habe beschlossen, sofort Google Earth vom Telefon zu löschen und mich mit der Stadt abzufinden, die ich vor mir sehe. Hundstrümmerln sind bisher nicht einmal in Google vermerkt. Um die muss ich schon heute selbst herumlaufen.
(Harald Taglinger)