Auf der Suche nach dem Google-Syndrom
Suchmaschinen haben die Arbeitsweise von Wissenschaftlern und Hochschullehrern nachhaltig verändert. Sie verschaffen schnellen Zugriff auf dringend benötigte Informationen, helfen aber auch Plagiatoren bei ihrem betrügerischen Spiel mit den Institutionen. Der Historiker und Informationswissenschaftler Peter Haber beschäftigt sich damit, wie die Wissenschaft im Zeitalter von Google funktionieren kann.
Studieren bedeutete früher, in die Bibliothek zu gehen, Karteikarten durchzublättern und Bibliografien zu wälzen, Bücher zu bestellen, darauf zu warten, dass sie aus dem Lager geliefert werden, sie zu lesen und durchzublättern, Auszüge und Abschriften oder Kopien zu machen und sich von dort auf weitere Literatur verweisen zu lassen.
Wie bequem ist es doch heute, da man nur den Computer einschalten muss, sich vors Internet setzt, Google anwirft, das Gesuchte eintippt und schon alles vor einem ausgebreitet wird.
Man muss nur noch kopieren und einfügen. Doch halt, war da nicht noch irgendwas? Ist das noch wissenschaftliches Arbeiten? Dieses Gefühl, das einen beschleicht, wenn man als Wissenschaftler oder Student im Internet recherchiert, hat der Basler Historiker und Informationswissenschaftler Haber als "Google-Syndrom" bezeichnet.
Zur Person:
Peter Haber hat Geschichte, Soziologie, Philosophie und Staatsrecht studiert und eine Zusatzausbildung in Archiv- und Informationswissenschaften gemacht. Vor zehn Jahren gründete er gemeinsam mit Jan Hodel Hist.net, eine Plattform für digitale Medien in den Geschichtswissenschaften. Seit drei Jahren beschäftigt er sich in seinem Forschungsprojekt "digital.past" am Historischen Seminar der Universität Basel mit den Auswirkungen neuer Medien auf die Geschichtswissenschaften.
"Sehr fantastisch"
"Wir haben, wenn wir mit Google suchen, ja sehr oft diese Erfahrung, dass man immer irgendetwas findet", sagt Haber. "Also man gibt irgendeinen Begriff ein, und es kommt etwas zurück, und das ist sehr fantastisch. Und auf der anderen Seite geht es mir immer so - und ich glaube, es geht vielen Menschen so -, dass immer so ein komisches Gefühl übrig bleibt: Da müsste doch eigentlich noch mehr gewesen sein. Der andere Teil ist, dass mit der Google-Suche, wobei Google da nur als Synonym für Suchmaschinen steht, die ganzen Kontexte ausgeblendet werden. Diese sind, dass Wissen nicht wertfrei ist, dass Informationen noch nicht Wissen sind, dass Wissen einen Wert hat, dass Wissen nicht neutral sein muss. Das alles habe ich mit dem Begriff Google-Syndrom zusammengefasst."
Wer nur schnell einmal eine Information sucht und rasch eine Antwort findet, wird dieses Gefühl vermutlich nicht haben. Beim wissenschaftlichen Arbeiten hat man jedoch den Anspruch, ein Thema vollständig zu recherchieren und zu bibliografieren. Das Wissen darüber, wie man recherchiert und wo man die passenden Quellen findet, gehört zum Handgepäck eines Forschers oder einer Forscherin - zumindest in den Geisteswissenschaften.
Google zerschlagen?
Wie wir das Web wahrnehmen, wird erheblich von Suchmaschinen beeinflusst - insbesondere von Marktführer Google. Doch diese einseitige Art der Informationsbeschaffung ist undemokratisch, meint Informationswissenschaftler Bernhard Rieder. Im Gespräch mit ORF.at erklärt er, wie die Websuche besser und vielfältiger werden könnte. Google werden seine Ideen nicht gefallen.
OPAC-Antike und Google-Syndrom
"Die wissenschaftliche Recherche lief früher so, dass man in den Bibliothekskatalogen geschaut hat, was es alles gibt. Das war im besten Fall digital in einem sogenannten OPAC, in den vergangenen zehn, 20 oder 30 Jahren war das im deutschsprachigen Raum schon Standard. Da musste man aber wissen, wie man damit arbeitet. Also, will ich nach dem Autor suchen oder will ich ein Stichworten eingeben - es waren keine Volltexte da", so Haber.
"Das heißt, man musste sich auf die Metadaten beschränken, also die Informationen über die Informationen. Dann gab es Fachbibliografien, meist in gedruckter Form, da musste man sich Jahr für Jahr durcharbeiten. Und heute habe ich schon Reaktionen in Semarien gehabt: 'Was, ich soll in die Bibliothek gehen? Also bitte, wenn das nicht mit Google zu finden ist, dann werde ich das in meiner Seminararbeit oder in meinem Referat nicht verwenden.'"
Allwissenheit und Leere
Sollte diese Meinung vorherrschen, besteht die Gefahr, dass das alte Handwerkszeug der Recherche aus dem Zeitalter vor Google verloren geht. Dabei geht es nicht um ein Bejammern der guten alten Zeit, sondern um konkrete Auswirkungen auf die Forschung, wie Haber erläutert: "Das Problem ist, dass man ja immer etwas findet und dann sehr schnell sich damit zufriedengibt. Man denkt sich dann, warum soll ich mir die Mühe machen, das Gleiche noch einmal in einer Bibliothek, in einem Archiv, in einer Bibliografie oder einem Fachportal zu suchen. Ich habe ja eh schon so viele Treffer, das kann ich ja gar nicht alles lesen. Diese Allwissenheit und die Leerstelle gleichzeitig, das ist das, was ich meine mit dem Google-Syndrom."
Die mit Suchmaschinen im Internet mögliche Volltextsuche erscheint auf den ersten Blick weitaus erfolgreicher als die früheren Methoden, weil man zu fast jeder beliebigen Zeichenfolge irgendeinen Treffer erzielen kann. Die Leerstelle, die Haber bei der "modernen" Suche spürt, resultiert jedoch daraus, dass nicht transparent ist, in welchen Datenbeständen und mit welchen Suchalgorithmen gesucht wurde. Bei der "alten" Suche hingegen bewegt man sich in Datenbeständen, die bereits eine Qualitätskontrolle durchlaufen haben. Ein Buch aus einer wissenschaftlichen Bibliothek ist vermutlich in einem renommierten Verlag erschienen, wurde im Verlag lektoriert, dann rezensiert, von einem Fachreferenten der Bibliothek ausgewählt und für den Bibliothekskatalog ausgewertet.
Anlässlich der Konferenz "Deep Search" haben Experten in Wien über die gesellschaftliche Macht der Suchmaschinen debattiert. ORF.at hat mit den Konferenzveranstaltern Konrad Becker und Felix Stalder vom World Information Institute über digitale Wissensordnungen, Bürgerrechte bei Google und Paranoia als Erkenntnisinstrument gesprochen.
Text und Paratext
"Ein Teil der wissenschaftlichen Sozialisation ist ja, dass man den Umgang mit der Recherche und den Quellen lernt", sagt Haber. "Dann kommt bei gedruckten Werken noch etwas dazu, das man als Paratexte bezeichnen könnte, als Zusatzinformationen, die ein bisschen versteckt sind. Also die Danksagung oder die Einleitung beschreiben ja, in welchem Netzwerk sich der Autor befindet oder befinden möchte. Der Klappentext gibt eine kurze Zusammenfassung, das Literaturverzeichnis zeigt mir, was der Autor gelesen hat, bevor er dieses Werk geschrieben hat. Das sind alles Zusatzinformationen, mit denen man umzugehen lernt. Wenn ich mit Google suche, dann wühle ich einfach in einer großen Kiste und ziehe irgendwas heraus und habe diese Zusatzinformationen nicht."
Wenn man nicht weiß, woher Quellen stammen und wie sie einzuschätzen sind, kann man die in ihnen enthaltenen Informationen für wissenschaftliche Arbeiten aber nicht oder nur mit Vorbehalt verwenden. Die scheinbar einfachere Suche nach Informationen über das Internet wird damit zu einer schwierigeren, weil die Vorarbeit, die Verlage, Lektoren, Bibliothekare und andere Wissenschaftler erbracht haben, wegfällt und vom Recherchierenden selbst geleistet werden muss.
Das Erscheinungsbild des Trash
Bei einem Buch kann man oft auch schon am äußeren Erscheinungsbild erkennen, ob es sich um ein wissenschaftliches oder triviales Werk handelt, ob es von hoher oder geringer Qualität ist oder in welche ideologische Richtung es geht. Ein Groschenroman wird auf jeden Fall eindeutig von einem Fachbuch zu unterscheiden sein. Diese Bildsprache wurde über lange Zeit gelernt. Diese Regeln seien aber nicht so einfach auf das Internet zu übertragen, so Haber.
Heute Abend in "matrix":
Am Sonntag hören Sie um 22.30 im Ö1-Netzkulturmagazin "matrix" das vollständige Gespräch mit Peter Haber über Wissenschaft und Suchmaschinen sowie einen Beitrag von Sonja Bettel über die Fachkonferenz "Deep Search".
"Es gibt dort auch bestimmte Regeln", sagt der Historiker. "Es gibt zum Beispiel eine Untersuchung, bei der man Menschen gefragt hat, welche Farbe die seriöseste ist, und das war Blau. Das heißt, es gibt natürlich eine Tendenz, wissenschaftliche Sites in Blau zu halten. Es gibt auch Checklisten, wo man relativ schnell herausfinden kann, ob eine Information etwas taugt oder nicht. Das sind zum Beispiel: Wird der Autor genannt, wer betreibt die Website, gibt es eine institutionelle Anbindung, mit welcher Absicht wurde dieser Text veröffentlicht oder wie oft wird die Website aktualisiert. Man muss diese Zeichen aber lesen können. Die Historiker nennen das Quellenkritik, und diese ist das A und O des Handwerks. Das Problem ist jedoch, dass die Quellenkritik nicht so einfach auf digitale Medien übertragbar ist. Wir kennen sie für Münzen, für Urkunden, für Wappen und alles Mögliche, aber wir haben noch keine Quellenkritik des Digitalen."
(matrix/Sonja Bettel)
