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Arbeit und Kontrolle im Internet-Zeitalter

GESELLSCHAFT
14.02.2010

Überwachung und Kontrolle gehören nicht nur zum Repertoire totalitärer Regimes. Sie sind auch seit frühester Zeit integraler Bestandteil des Wirtschaftssystems liberaler westlicher Staaten. Daher ergibt es keinen Sinn, über den Schutz der Privatsphäre zu diskutieren, ohne gleichzeitig über die Lebens- und Arbeitsbedingungen im global vernetzten Kapitalismus nachzudenken. Ein Essay von Armin Medosch.

Wenn wir uns gängige Definitionen der Privatsphäre ansehen, dann wird schnell klar, dass "wir" weit davon entfernt sind, wirklich Kontrolle über die Informationen zu haben, die über uns gesammelt werden. Die aufrechten Bemühungen jener Personen und Gruppen, die für den Schutz der Privatsphäre kämpfen, sind auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt, solange sich nicht grundsätzlich der Charakter des Informationskapitalismus ändert.

Das Argument über eine neue Balance zwischen öffentlichem Raum und Privatsphäre mündet daher in ein Argument über die Zukunft der Informationsgesellschaft. Wollen wir eine nachhaltige, kreative Wissensgesellschaft oder sind das nur Schlagworte, die missbraucht werden, um dem schrankenlosen Informationskapitalismus zu dienen? In der dystopischen Version einer vom Finanzmarkt getriebenen, auf Hyperausbeutung beruhenden Gesellschaft ist nicht nur kein Platz für die Privatsphäre, sondern, und das der wirklich bedrohliche Aspekt, auch die Öffentlichkeit ist zunehmend Opfer der Privatisierung. Um diese Entwicklungen untersuchen zu können, ist es zuerst nötig, ihre historischen Ursprünge herauszuarbeiten.

Dieser Text ist in einer längeren Fassung in englischer Sprache auf der Plattform The Next Layer erschienen.

Zudem wird der Essay ungekürzt in englischer und niederländischer Sprache in der Zeitschrift OPEN, Cahier on art and the public domain, Nr. 19. erscheinen.

Das Erbe der Revolutionen

Die Privatsphäre, oder besser, die Trennung zwischen öffentlich und privat, ist ein konstitutiver Bestandteil der politischen Philosophie des Liberalismus und somit auch für die normative Funktion des Rechts in den europäischen Staaten. Entwickelt hat sich diese Auffassung zunächst in England, ausgearbeitet in der politischen Philosophie von John Locke am Ende des 17. Jahrhunderts zur Zeit der Great English Revolution, der ersten bürgerlichen Revolution in Europa. Die Freiheit ist hier allerdings an den Besitz gebunden und vor allem als individuelle Freiheit und Autonomie von ungerechtfertigten Übergriffen des Staates definiert.

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat in seinem Werk "Strukturwandel der Öffentlichkeit" den historischen Zusammenhang zwischen der Privatsphäre als Ursprung der politischen Öffentlichkeit herausgearbeitet. Schriftstellernde Bürgerinnen und Bürger übten in ihren privaten Korrespondenzen, Literatur- und Theaterkritiken das politische Räsonieren, einen auf rationaler Ebene geführten Diskurs zwischen Personen, die sich als frei und gleich anerkennen. Das Entstehen der Zivilgesellschaft und der bürgerlichen Öffentlichkeit im späten 18. Jahrhundert war zugleich unauflösbar mit dem Entstehen des freien Marktes verknüpft. Der freie Markt war Vorbedingung für die entwickelte bürgerliche Öffentlichkeit, die so Einfluss auf den Erlass neuer Gesetze gewinnen konnte.

Der bürgerliche Diskurs

Im Vorwort zur zweiten deutschen Auflage gibt Habermas zu, Fragen des Geschlechts sowie der Klasse zu wenig Aufmerksamkeit gegeben zu haben. Eine feministische Kritik der Konzeption der Privatsphäre unter patriarchalischen Familienverhältnissen hat unter anderen die Philosophin Beate Rössler mit "Der Wert des Privaten" vorgelegt. Habermas war außerdem zum Zeitpunkt der Arbeit an "Strukturwandel" die Studie "The Making of the English Working Class" des britischen Historikers Edward Palmer Thompson noch nicht bekannt. Thompson schildert darin ausführlich das Schicksal der "englischen Jakobiner" - ein Sammelbegriff für proletarische Revolutionäre, die sich ab 1792 in zahlreichen sogenannten Corresponding Societies trafen, um revolutionäre Texte zu lesen und politische Reformen zu diskutieren.

An der Spitze dieser Bewegung standen zumeist qualifizierte Facharbeiter und Kunsthandwerker, die hohen Wert auf Bildung, Gleichberechtigung, Redefreiheit und rationale Diskussionskultur legten. Schockiert von den Exekutionswellen der Terrorphase der französischen Revolution verbündete sich das englische Bürgertum mit dem Adel und erließ eine Reihe repressiver Gesetze, welche die englischen Jakobiner nach links und in den Untergrund trieben. Mögliche Allianzen zwischen dem gebildeten Handwerkertum und der Mittelschicht wurden so unterbunden. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil die zugleich einsetzende industrielle Revolution dadurch in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde.

Die fremde Macht

Thompsons Arbeit zeigt, dass die räsonierende Öffentlichkeit keine exklusive Errungenschaft des Bürgertums ist. Im Gegenteil: Das Bürgertum tat alles, um entsprechende Aktivitäten seitens der gerade entstehenden Arbeiterklasse zu unterdrücken. Auch die Analyse der US-amerikanischen Soziologin Saskia Sassen ("Das Paradox des Nationalen", 2008) zeigt in diese Richtung: Das Entstehen des Bürgertums als privilegiertes Rechtssubjekt beruhte auf einer Gesetzgebung, welche die Unterdrückung der englischen Arbeiterklasse im Recht verankerte.

Die spezifischen Verhältnisse, die durch die frühe Niederlage der englischen Arbeiterklasse entstanden, gaben der einsetzenden Entwicklung der technologischen Produktionsmittel eine ganz bestimmte Richtung, die darauf abzielte, die Arbeiterinnen und Arbeiter am Produktionsort zu kontrollieren und qualifizierte menschliche Arbeit durch Maschinenarbeit zu ersetzen. Die Arbeitsteilung in der maschinellen Fertigung konfrontiert die Arbeiter mit dem intellektuellen Potential des materiellen Produktionsprozesses als Eigentum eines anderen und daher als fremde Macht, die über sie bestimmt - so beschrieb Karl Marx eine grundlegende Tendenz des technischen Fortschritts im Kapitalismus, die bis heute währt.

Computer als Kinder des Kapitalismus

Folgen wir dem belgischen Soziologen Armand Mattelart in seinem Werk "The Information Society – an Introduction", so existierte bereits eine Informationsgesellschaft, lange bevor es Computer gab. Eine ihrer Wurzeln finden sich in den Ideen der französischen Physiokraten und Aufklärungsphilosophen, insbesondere in der Interpretation von Statistik als "Gesellschaftsphysik" nach dem französischen Theoretiker der Revolutionszeit Nicolas de Condorcet. Als Musterschüler der neuen Wissenschaft zeigten sich jedoch bald Preußen und England. Veränderungen im Steuersystem im Kontext des langen Kriegs mit Frankreich zwangen England zur Entwicklung eines ausgeklügelten steuerlichen Überwachungssystems, das einer statistischen Erhebung der gesamten volkswirtschaftlichen Tätigkeit nahe kam.

Über mehrere Zwischenstufen entstand so im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Idee der Gesellschaft als "Versicherungsstaat", in dem man Risiken durch statistische Vorhersage in den Griff zu bekommen versuchte. Mit Statistik befasste sich auch Bankierssohn und Mathematikgenius Charles Babbage, als er sich anschickte, die geistige Tätigkeit des Rechnens zu mechanisieren. Inspiriert von dem französischen Mathematiker und Ingenieur Gaspard de Prony, der ein hochentwickeltes System der Arbeitsteilung angewandt hatte, um Tabellen für die Umwandlung alter Maßeinheiten in das neue Dezimalsystem erstellen zu lassen, verwandte Babbage dasselbe Prinzip, um seine Rechenmaschinen Difference Engine und Analytic Engine zu entwerfen.

Entfremdung in der Fabrik

Die Gruppe um Babbage, darunter die Schriftstellerin und Intellektuelle Ada Lovelace, erkannte frühzeitig die Analogie zwischen Rechenmaschine und menschlichem Gehirn. Aus diesen Vorstellungen lässt sich auch eine Analogie zwischen den Arbeitsprinzipien des Computers und jenen der Fabrik ableiten. Babbage war einer mehrerer "Fabrikstouristen", die im frühen 19. Jahrhundert die gerade neu entstandenen Produktionsbezirke im Norden Englands bereisten und diese als transparentes, rationales System der Arbeitsorganisation priesen. Nur einer dieser bürgerlichen Fabrikstouristen, der Deutsche Friedrich Engels, zeigte Mitgefühl für jene armen Teufel, deren Lebenszeit völlig den Bedürfnissen der Produktion untergeordnet war.

Die Konstruktion einer Analogie zwischen einem perfekt rationalen System in der Fabrik und der Rechenmaschine, die beide der Logik des Babbage-Prinzips folgen, wird von dem britischen Wissenschaftsphilosophen und -historiker Simon Schaffer als Ursprungsmythos der Informationsgesellschaft, der Kybernetik und Computertechnologie identifiziert. Das Fabrikssystem machte die qualifizierten Handwerker arbeitslos, zwang sie zur Akzeptanz entfremdender Maschinenarbeit, während ihr Beitrag zur technologischen Innovation von den "Philosophen" wie Babbage mit ihrem Diskurs über "künstliche Intelligenz" heruntergeredet wurde, erklärt Schaffer.

Taylorismus und Kontrolle

Diese Tendenzen verschärften sich mit dem "wissenschaftlichen Management", das von Frederick Winslow Taylor am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde. Taylor, so der Arbeitshistoriker Harry Braverman in seinem Werk "Labor and Monopoly Capital", sei der direkte geistige Nachfahre von Babbage. Die Prinzipien der Rationalisierung machten es nötig, dass das Management sich systematisch das ganze Wissen über den Produktionsprozess aneignet, das zunächst in den Händen und Köpfen der höher qualifizierten Arbeiter gelegen hatte. Dieses Wissen setzte das Management dann ein, um den Produktionsprozess so zu gestalten, dass es die völlige Kontrolle über die einzelnen Arbeiter ausüben kann. Dazu wiederum musste, parallel zum Produktionsprozess, eine zweite Ebene des Planens und der Kontrolle entstehen, ein System von Technikern und Angestellten, die den Produktionsprozess durch einen gewaltigen Fluss von Papierdokumenten zugleich ermöglichen und lenken.

Nach den Prinzipien der Arbeitsteilung und des Babbage-Prinzips werden auch diese Arbeitnehmer wieder in eigene Tätigkeits- und Gehaltsgruppen unterteilt. Die Folge ist, dass auch hier die einzelnen am Produktionsprozess beteiligten Menschen keinen Überblick über das Ganze haben. Denn der steht nur dem höheren Management zu. Freilich muss auch die Büroarbeit laufend rationalisiert werden. Die Arbeiten von u.a. Braverman, James R. Beniger (The Control Revolution, 1986) und Alfred D. Chandler (The Visible Hand, 1977) zeigen, wie diese Management-Revolution eine Kontrollrevolution hervorrief, welche die Form des modernen amerikanischen Großkonzerns hervorbrachte, dessen spezifische Organisationsweise nach dem zweiten Weltkrieg zum Vorbild für alle Konzerne in kapitalistisch orientierten Staaten wurde.

Automatisierung geistiger Tätigkeiten

Die Steuerung oft weitverzweigter und geografisch gestreuter Massenproduktionsunternehmen nach puren finanziellen Kriterien mit den einhergehenden Prinzipien der Kostenstellenrechnung, der Planung und Kontrolle verursachten einen solchen Aufwand für die Informationsverarbeitung, dass die Entwicklung von Computern und Telekommunikation praktisch unumgänglich wurde. Während es zwar richtig ist, dass Computer zunächst aus militärischen Gründen gebaut wurden, sind diese wirtschaftlichen Motivationen in der einschlägigen Literatur nicht genügend berücksichtigt.

Aus diesen wirtschaftlichen Motivationen aber erklärt sich der Hunger des Kapitalismus nach Informationen, was sich in die Entwicklungslogik der Informationsverarbeitungsmaschinen eingeschrieben und einen guten Teil zur Entstehung der Überwachungsgesellschaft beigetragen hat. Im Zentrum dieses Prozesses steht die Kontrolle der menschlichen Arbeit und des Ersatzes menschlicher Arbeit durch Maschinenarbeit. In der weiteren Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bezieht sich dieser Ersatz durch Mechanisierung immer weniger auf den Ersatz von Muskelkraft als auf den Ersatz geistiger Tätigkeit.

Feedback in der Konsumgesellschaft

Das Zeitalter der Massenproduktion bemüßigte die Hervorbringung neuer Tätigkeitszweige zur Förderung des Konsums und der Steuerung von Märkten und Meinungen durch Werbung, PR und elektronische Medien wie Radio und Fernsehen. So entstanden von den 1930er Jahren an eine Reihe von Techniken der informationellen Rückkopplung - das Nielsen-Radiometer, die Konsumentenumfrage, die Gallup-Umfrage -zusammen mit neuen Zweigen der Soziologie und der Kommunikationswissenschaft, deren Hauptzweck es war, unter die Haut und die Schädeldecke der Konsumenten zu gelangen. Der amerikanische Theoretiker Brian Holmes spricht in diesem Zusammenhang vom Nielsenismus, einem Verständnis der Gesellschaft auf der Basis kybernetischer Prinzipien, wobei die Information die Kopplung von Produktion und Konsumption sicher stellt.

In einer vielschichtigen und komplexen Geschichte, die hier nur angedeutet werden kann, führten die Proteste von Arbeitern und Studenten ab Ende der 1960er Jahre zu einem Umbau des Produktionssystems. Durch die Auslagerung der Produktion in Entwicklungs- und Schwellenländer entstanden globale Produktionsstraßen, die durch Informations- und Kommunikationstechnologien zusammengehalten werden, und auf einer strikten Kontrolle der Arbeiter beruhen. Die Logik dieser Management-Rationalität im Zeitalter der neoliberalen Globalisierung offenbarte sich in den diversen Überwachungsskandalen der jüngeren Geschichte, ob bei Bahngesellschaften oder großen Einzelhandelsunternehmen.

Vernetzt im Callcenter

Die Tendenz zur Verschmelzung elektronischer Räume mit realen zeigt sich auch an der vordersten Front der Kundendienstleister, ob in den Call-Centers, Bankschaltern oder Verkaufsräumen. Softwarepakete mit Namen wie Click2Staff erzeugen detaillierte Protokolle der Kundenkontakte und vergleichen diese mit Statistiken über Kundenzufriedenheit, Wartezeiten und ähnlichem, um dann dem Management automatisch generierte Vorschläge über die Einteilung der Arbeitskräfte zu machen. Andere Softwarehersteller gehen noch weiter und versprechen 360° Kontrolle über Arbeitskräfte und Kunden, indem Telefonaufzeichnungen, Tastaturanschläge, Videoaufnahmen und viele andere Datenquellen mehr miteinander abgeglichen werden, so dass ein perfektes elektronisches Panoptikon entsteht.

Dieser Technologieeinsatz an der Schnittstelle zur Kundin dient, neben der Kontrolle der Arbeitnehmer, vor allem der "sozialen Auswahl": die mitlaufende Software gibt der Arbeitskraft im Call-Center Anweisungen, wem welche Angebote gemacht werden, wer kreditwürdig ist oder nicht oder wer gleich in der Endlosschleife hängen bleibt. Rundumpakete für "handlungsfähige Intelligenz" wie jenes von Verint ähneln frappierend Angeboten, die von dieser und anderen Firmen an staatliche Firmen im Namen der Überwachung und Sicherheit gemacht werden.

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Totalitäre Kontrolltechnologien

Der Export dieser Technologien seitens europäischer Firmen in Länder wie Iran und China zeigt nicht nur westliche Doppelmoral, sondern eine besorgniserregende Verschränkung von staatlichen und privaten Interessen an Überwachung, durch die eine Überwachungsinfrastruktur entstanden ist, die längst alles in den Schatten gestellt hat, was George Orwell befürchtet hat. Von der EU geförderte Forschungsprojekte wie INDECT verweisen auf leider nicht mehr futuristische Visionen von automatischer Erkennung "verdächtigen Verhaltens" von "mobilen Objekten" nun bald auch im realen Raum.

Die Überwachungsgesellschaft funktioniert allerdings nicht, wie die Big Brother Awards rein durch den Namen fälschlich suggerieren, auf der Logik des totalitären Staates, ob nach faschistischer oder stalinistischer Bauart. In der liberalen Marktwirtschaft sind wir all mit dem Problem des gespaltenen Bewusstseins konfrontiert, das darin besteht, dass wir zugleich Produzenten und Konsumenten sind. Diese fundamentale Spaltung wird durch die Warenästhetik überspielt, die uns permanent einen emotionalen Mehrwert vorgaukelt.

Überwachung ist sexy

Das neue Handy erlaubt nicht einfach nur zu telefonieren, es macht uns auch irgendwie sexy und attraktiv. Die Vermittlungsstrukturen der Werbung und kommerziellen Medienästhetik bereiten bestimmte Futterale vor, in die wir uns mit unseren Persönlichkeiten bequem hineingleiten lassen können und die das Leben irgendwie angenehm und erträglich machen, solange wir es vergessen können, dass über die in dieser Ware enthaltenen Rohstoffe z. B. Bürgerkrieg im Kongo geführt wird und eine lange Stafette von Arbeitnehmern unter unmenschlichen Bedingungen schuftet, bis das personalisierte Kommunikationsgerät in der Tasche leise vibriert.

Zweitens werden wir durch die offiziellen Kommunikationskanäle kaum darauf vorbereitet, dass währenddessen eine weitere Kette von Aktionen ausgelöst wird, die unauffällig im Hintergrund arbeitet. Die Spaltung zwischen Produzenten und Konsumenten spiegelt sich in einer Gesellschaftsordnung, die immer stärker auf einer Client-Server-Architektur basiert. Dieselben Technologien, die an der Oberfläche Selbstverwirklichung, Befreiung, künstlerisch-kulturellen Selbstausdruck versprechen, werden Server-seitig für die Akkumulation von Geld und Wissen missbraucht. Die atomisierten Menschen in der informationellen Marktgesellschaft können sich an den Rändern freier bewegen, weil eine starke Zentralisierung der Kapitalanhäufung und Macht stattgefunden hat.

Planet Manchester

Dieses System ermöglicht in den reichen Ländern des Nordens zumindest einen gewissen Spielraum der Freiheiten. Die Möglichkeiten der spielerischen Selbstverwirklichung durch digitale Medien werden nicht nur vorgegaukelt, sondern sind tatsächlich gegeben, das aber innerhalb einer "verbesserten" Form der kybernetischen Kontrollgesellschaft, in der die Überwachungsmaßnahmen diskret in den Hintergrund rücken.

So können wir es dann psychologisch leichter wegdrücken, dass die Rechte der Kassiererin im Diskontladen oder des Truckers im "Sweatshop auf Rädern" ignoriert werden. Ein guter Teil Rassismus oder zumindest Ignoranz mag mitspielen, dass es vielen Menschen in westlichen Ländern egal ist, dass die Produktion billiger Konsumprodukte in China oder Nordafrika unter Bedingungen der Ausbeutung und Unterdrückung erfolgen, die jenen der englischen Arbeiterklasse in der Phase des Manchester-Liberalismus ähneln.

Im Namen der Wirtschaftlichkeit

Unter diesen Gesichtspunkten kann der Autor eine gewisse Unzufriedenheit mit den diversen Kampagnegruppen für die Rettung der Privatsphäre nicht verhehlen. Die "Freiheit statt Angst"-Demos haben zwar viele Leute auf die Straße gebracht, was ein schöner Erfolg ist. Auch nimmt die privatwirtschaftlich organisierte Überwachung immer mehr Raum unter den Kampagne-Themen ein. Beides verweist bereits auf ein Umdenken und dass sich hier etwas tut. Doch was will man eigentlich ausdrücken, wenn man den Schutz der Privatsphäre fordert?

Soll das heißen, dass man sich die Konturen des bürgerlichen Rechtsstaates zurückwünscht, eine Habermas'sche räsonierende Öffentlichkeit, die sich auf die gebildeten Schichten beschränkt? Versteht man sich als Erbe der Aufklärung, der großen Tradition von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Oder war nicht bereits an diesen Konstruktionen selbst etwas faul, welche diese Rechte den Frauen, den Armen und den Menschen in den Kolonien vorenthalten haben? Wäre es nicht vielleicht an der Zeit, endlich damit aufzuhören, sich als Europäer allein im "Besitz" dieser "demokratischen" Prinzipien zu dünken, während es doch "wir" selbst sind, die Überwachungssysteme im Namen der Wirtschaftlichkeit produzieren und nach China, Iran und Marokko exportieren?

Schutz des Gemeinguts

Wäre es nicht endlich an der Zeit, sich dieses Themas Privatsphäre innerhalb eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs anzunehmen? Als möglicher Ausweg aus dem Dilemma bietet sich die Idee der "Digital Commons" an, des digitalen Gemeinguts. Offenzulegen wäre nicht nur der Quellcode des Betriebssystems von Computern, sondern der gesellschaftlichen Normen und Standards, welche die sozialen und technischen Entwicklungen vorantreiben.

Gerade auch die Innovationssysteme, an denen Entwickler und Forscher direkt beteiligt sind, sind durchsetzt von Mythen der Kontrolle und der Effizienz, mit dem Resultat, dass sich die Menschen im Namen der Gewinnmaximierung selbst auszuschalten drohen. Einige der Grundpfeiler der Wissensallmende existieren bereits und haben in den letzten Jahren gute Fortschritte gemacht: Freie und Open Source Software, die Open Access Bewegung im wissenschaftlichen Publizieren, die Idee des Commons in Biomedizin und Life Science, freie Lizenzen für kulturelle Produktion (Creative Commons) und vieles mehr.

Das bessere Leben

Diese Dinge sind allerdings "leicht" wenn es sich bloß um Information handelt, welche die Eigenschaft hat, billig kopiert und verteilt werden zu können. Diese Idee des Gemeinguts muss erweitert werden und sich auf die physische Infrastruktur übertragen, auf die öffentlichen Räume, auf die Stadt als Betriebssystem, auf Land, Luft und Wasser. Die technischen Fortschritte haben vieles ermöglicht, wovon unsere Urgroßeltern kaum zu träumen wagten, aber sozial sind wir sehr abgestumpft. Die Lohnarbeit einzuschränken, mehr Zeit für mußevolle Betätigungen, Pflege, Familien- und Freundesleben zu verwenden, wäre längst möglich, wenn wir auf der Basis der gesellschaftlich nötigen Arbeit agieren würden. Wir agieren jedoch nicht, sondern reagieren auf den Zwang zur extremen Anhäufung von Gewinnen, den einige Wenige zur Obsession gemacht haben, die uns damit alle in Geiselhaft nehmen und zur unwilligen Komplizenschaft zwingen.

Lasst uns über diese Dinge reden, wenn wir von der Privatsphäre sprechen.

(Armin Medosch)