
Kampf gegen die Ignoranz der "Techies"
Ted Nelson hat den Ausdruck Hypertext geprägt und mit Xanadu ein komplexes System für vernetzte Dokumente entwickelt, das jedoch nie verwirklicht wurde. ORF.at hat mit dem Hypertext-Pionier über das Web 2.0 und die darin "tanzenden Schafe" sowie die Copyright-Problematik in der digitalen Welt gesprochen.
"Ich mag die heutigen Computer nicht, egal ob sie auf Windows, Mac OS oder Linux laufen", meint Nelson, sie alle wurden erfunden, um noch mehr Papier hervorzubringen. Auch das World Wide Web findet er trivial: Der Großteil der heutigen Computerwelt basiere auf einem Missverständnis der Techniker über das menschliche Leben und Denken, sagt er.
In den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwarf Nelson Xanadu, ein System für vernetzte Dokumente, in dem jeder Inhalte verfassen, lesen, bearbeiten und die parallel zueinander flottierenden Teile auf vielfältige Art und Weise organisieren und miteinander verknüpfen könnte. Links sollten in Xanadu nicht auf eine Richtung beschränkt bleiben, sondern mannigfaltige Verknüpfungen zwischen Inhalten ermöglichen.
Weltumspannendes Netzwerk und Archiv
Nelsons Traum, Xanadu als weltumspannendes Computer-Netzwerk und ultimatives Archiv zu etablieren, schlug jedoch, wie er meint, aus "gänzlich politischen Gründen" fehl. Verwirklicht wurde Xanadu allenfalls fragmentarisch.
Rechtzeitig zu seinem 70. Geburtstag präsentierte Nelson im vergangenen Juni XanaduSpace 1.0, das einen Einblick in die Möglichkeiten seiner Vision des Informationsmanagements geben soll. Darüber sprach der Hypertext-Pionier mit ORF.at ebenso wie über die Copyright-Problematik im Internet.
Nelson, der derzeit an der University of Oxford tätig ist, war Anfang der Woche bei der Ars Electronica in Linz, die am Dienstag zu Ende gegangen ist, zu Gast. Beim Symposium "Closeness vs Dislocation", das vom Linzer Ludwig Boltzmann Institut Medien.Kunst.Forschung veranstaltet wurde, blickte er, stark biografisch gefärbt, auf die Computergeschichte zurück.
ORF.at: Im Internet hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert. Weblogs, Social-Networking-Sites und andere Anwendungen haben das Publizieren im Netz radikal vereinfacht und neue Vernetzungsmöglichkeiten geschaffen. Verfolgen Sie eigentlich aktuelle Entwicklungen im Netz?
Nelson: Nicht wirklich. Das ist nicht meine Welt. Das so genannte Web 2.0 ist auf das World Wide Web aufgebaut, das eine schwache Konstruktion ist. Daher ist es nicht mehr als eine schwache Konstruktion auf einer schwachen Konstruktion.
Die jungen Leute, die es nutzen, kommen mir vor wie tanzende Schafe, die nicht wissen, dass sie gegängelt werden.
Ich war in den Vereinigten Staaten bei Rockkonzerten, wo viele Leute glauben, dass sie rebellieren. Stattdessen dürfen sie auf diesen Festivals nicht mehr als nur eine Biermarke kaufen und eine Art von Sandwich essen. Sie sind im Konsumsystem gefangen. Dasselbe denke ich, wenn ich die jungen Leute im Netz sehe.
ORF.at: Sie haben bereits in den 60er Jahren Xanadu, ein System für vernetzte Dokumente, entwickelt, das weit mehr Möglichkeiten bietet als das World Wide Web.
Vor 2.000 Jahren wurde am chinesischen Kaiserhof erstmals Papier vorgestellt. Seither versuchen wir unsere Aufzeichnungen an aufeinander folgende Vierecke anzupassen, die wir Papier nennen. Aber unsere Gedanken sind nicht viereckig. Ich betrachte Papier als ein Gefängnis.
Am Computer könnten diese Beschränkungen überwunden werden, man kann beispielsweise Anmerkungen zu Texten hinzufügen und alles miteinander verbinden. Dennoch imitieren Microsoft Word und Adobe Acrobat Papier. Das ist komplett verrückt.
Ich glaube, dass Texte und andere Inhalte im Computer parallel angeordnet und vielfältig miteinander verbunden werden sollten. Wenn ich ein Zitat sehe, will ich auch zum Original kommen. Dieser Gedanke war immer zentral für mein Denken. Das ist für mich fundamental und ich kann nicht verstehen, warum es die meisten Leute nicht wollen.
ORF.at: Xanadu wurde bis heute nicht verwirklicht. Warum?
Nelson: Die Gründe warum ich Xanadu noch nicht fertigstellen konnte sind gänzlich politisch. Mir ist das Geld ausgegangen, Leute haben das Projekt verlassen.
In der Zwischenzeit haben sich andere Formen des Hypertext durchgesetzt, aus denen schließlich das World Wide Web hervorgegangen ist, das ich jedoch trivial finde.
ORF.at: Sie haben vor kurzem XanaduSpace 1.0 veröffentlicht?
Nelson: XanaduSpace 1.0 ist nicht wirklich ein Produkt, sondern eher eine Produktdemonstration. Ich wollte es rechtzeitig zu meinem 70. Geburtstag im vergangenen Juni veröffentlichen. Als Produkt wird XanaduSpace 1.0 in einigen Monaten verfügbar sein.
Damit wird es möglich sein, komplexe Anordnungen von parallelen Dokumenten zu lesen, zu schreiben und zu bearbieten. Ich glaube die Leute müssen es erst sehen, um es zu verstehen. Ich versuche seit Jahren dieses System zu erklären, aber es führt zu nichts, wenn ich nur darüber rede.
Xanadu Space 1.0 kann kostenlos auf der Seite des Projekts Xanadu heruntergeladen werden [Nur für Windows-Betriebssysteme].
ORF.at: Mit dem in Xanadu enthaltenen Transklusionsmechanismus haben Sie auch eine Lösung der Copyright-Frage bei digitalen Inhalten vorgeschlagen. Wie denken Sie über die aktuellen Auseinandersetzungen um das Copyright in der digitalen Welt?
Nelson: Die Copyright-Gesetze werden nicht verschwinden. Es gibt zahlreiche große Unternehmen - von Disney über Bertelsmann bis hin zur Oxford University Press - die alles unternehmen werden, damit das nicht geschieht. Ihr Geschäftsmodell basiert ausschließlich auf den Copyrights, die sie halten. Es wird viel zitiert und heruntergeladen im Netz. Auf der anderen Seite werden viele Leute geklagt. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Die Leute, die die Copyrights verletzen, glauben sie können die Gesetze aushebeln. Die andere Seite schlägt mit eiserner Hand zu.
Ich habe ein einfaches System vorgeschlagen, in dem mittels Micropayment Teile von Inhalten gekauft werden und verwendet werden dürfen. Aber keine der beiden Seiten versteht meinen Ansatz.
Ich habe jedoch Gerüchte gehört, dass Google Überlegungen in diese Richtung anstellt. Ich weiß allerdings nicht, ob sie stimmen.
ORF.at: Sie halten seit dem Jahr 2000 auch ein Patent auf ein Bezahlsystem für vernetzte Inhalte?
Nelson: Das ist richtig. Dafür wurde mir von einem Patent-Konsortium bereits eine hohe Summe geboten. Das zeigt, dass irgendjemand in diese Richtung hinarbeitet.
ORF.at: Auf ihrer Website bezeichnen sie sich als Systemhumanisten. Was können Techniker von Systemhumanisten lernen?
Nelson: Die Leute lernen ganz generell nicht sehr viel. In meinem Umgang mit "Techies" habe ich versucht menschliche Werte zu vermitteln. Aber ich befürchte, dass der Großteil der Computerwelt heute auf einem Missverständnis der Techniker über das menschliche Leben und das menschliche Denken basiert.
Ich mag die heutigen Computer nicht, egal ob sie auf Windows, Mac OS oder Linux laufen. Sie alle gehen auf ein Modell zurück, das 1974 im Xerox Research Center in Palo Alto entwickelt wurde. Das wurde für das Xerox-Management entwickelt und nicht für die Leute.
Der Zweck des Computers, so wie er heute aussieht, ist es mehr Papier hervorzubringen. Es ist kein Zufall, dass er von Xerox, das unter anderem Kopiermaschinen herstellt, entwickelt wurde.
ORF.at: Wie wird das World Wide Web in 20 Jahren aussehen?
Nelson: [lacht] Ich habe nicht die geringste Ahnung. Das World Wide Web ist der Lippenstift auf dem Internet, es ist das, was von den Leuten wahrgenommen wird.
Es hat sich in den vergangenen Jahren etwa mit Flash sehr verändert und es wird sich wohl auch in den nächsten Jahren stark verändern. Ich habe aber keine Ahnung, wie das aussehen wird.
Weitere Berichte zur Ars Electronica:
(futurezone | Patrick Dax)